In einem gemütlichen Erdloch tief im Herzen des Thurauen-Waldes lebt ein kleiner Siebenschläfer namens Jakob. Normalerweise schlummert er um diese Jahreszeit tief in seinem Winterschlaf. Doch dieses Jahr ist alles anders: Die Temperaturen sind ungewöhnlich mild – und auf einen Schlag ist Jakob hellwach.
Das Erdloch kommt Jakob nun dunkel und eng vor. Die feuchte Erde scheint näher zu kommen und ihn zu zerquetschen. «Raus hier!», denkt sich Jakob, «bloss schnell raus!» Mit geweiteten Augen späht er aus seinem Versteck und versucht vergeblich, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Angelockt von der frischen Luft, die in seine Lungen strömt und vom feinen Schein der Sterne tappt er aus seiner Grube… und hält abrupt inne. Erst jetzt bemerkt er, wie kahl seine Umgebung ist. Entsetzt schaut er um sich: keine Blätter, keine Blumen, kein Duft frischer Blüten. «Es ist noch nicht Frühling», wird ihm plötzlich klar, «ich bin mitten im Winter aufgestanden», wird ihm plötzlich klar.

Zurück ins Erdloch will Jakob auf keinen Fall. Da entdeckt er hoch oben zwischen den kahlen Ästen einer Buche das Eichhörnchen Ora, das während seiner Winterruhe während den täglichen Wachphasen unterwegs ist. Rasch klettert Jakob zu ihr hoch. «Hallo Ora», begrüsst er sie, «der Winter ist so anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Es hat weder Schnee noch Eiszapfen!», erzählt er ihr enttäuscht. Aber Ora antwortet: «Komm, ich zeig dir was!» und nimmt Jakob mit auf einen Ausflug durch den winterlichen Auenwald.

Gemeinsam huschen sie von Baum zu Baum, kommen an spiegelnden Teichen vorbei und treffen unterwegs den Biber, das Reh und den Eisvogel, die auch im Winter aktiv sind. Nahe der Stelle wo die Thur in den Rhein mündet, klettern Ora und Jakob bis in die Baumkrone einer Silberpappel. Wie schön der Ausblick von hier oben ist!

Obwohl es eine milde Nacht ist, scheint die Welt in diesem Moment eingefroren in ihrer Friedlichkeit. Jakob könnte noch Stunden in der Baumkrone sitzen und zuschauen, wie die Wassermassen der Thur in den Rhein übergehen. Aber Ora stupft ihn und weist gegen den Himmel, wo die Winter-Sternbilder glitzern. Sie erzählt dem kleinen Siebenschläfer von den Geschichten, die sich die Tiere des Waldes über die Wintersterne weitergeben. Jakob lauscht gebannt – längst ist er dem Winterzauber verfallen, der auch ohne Schnee und Eiszapfen seine Wirkung entfaltet.

Spät machen sich die zwei auf den Weg zurück zum Erdloch. Jakob weiss, dass er nicht bis im Frühling wach bleiben kann und sein Winterlager scheint ihm plötzlich wieder verlockend. Erfüllt von der faszinierendenden Schlichtheit des Winterwaldes und müde von den Erlebnissen der vergangenen Stunden kuschelt sich Jakob in seine Schlafnische, lässt die Bilder der letzten Stunden nochmals vorbeiziehen und fällt schliesslich zurück in seinen tiefen Winterschlaf. Erst wenn die Natur im Frühling wieder zum Leben erwacht, wird auch er wieder aufstehen. War der Winterzauber Traum oder Wirklichkeit? Ora wird es ihm bestimmt verraten.

Diesen Siebenschläfer hat das Team im November 2021 im Lavabo des Naturzentrums gefunden. Ohne ihn zu wecken wurde er in die im Holzturm hergerichtete Kiste verfrachtet. Hier blieb sein Winterschlaf ungestört.

Facts zum Winterschlaf

In der Realität kommt es nur selten vor, dass Säugetiere aus ihrem Winterschlaf erwachen, da Start und Ende des Winterschlafs nicht nur von der Temperatur abhängig sind. Zu den Gefahren eines verkürzten Winterschlafs zählen Nahrungsmangel bei zu schnellem Abbau des Winterspecks und erneute Wintereinbrüche. Es ist nicht abschliessend geklärt, wie die Tiere wissen, wann sie aufwachen müssen, aber Faktoren wie die Tageslänge sowie die Menge von Stoffwechselprodukten im Körper haben vermutlich ebenfalls einen Einfluss. Stärker betroffen von Temperaturschwankungen sind wechselwarme Tiere, die in einer Kältestarre überwintern.